Klavier Festival Ruhr
deutschsprachige Version ausgewählt Click to change to English language Petruschka
Was hat Strawinsky gemacht?

In diesem Abschnitt finden Sie eine detaillierte Darstellung, wie Strawinsky die Ideen, die die Grundlagen für die einzelnen Schulprojekte bilden, musikalisch umgesetzt hat. Die Erläuterungen sollen Ihnen dabei helfen, die Kinder mit der Musik Strawinskys vertraut zu machen und Verbindungen zwischen Strawinskys und der von den Kindern erfundenen Musik herzustellen.

Jahrmarktszene „Kommt her und kauft!“
Ding Dong Ding
Ein verrückter Tanz
Traurig und eifersüchtig
Traurige Melodie
Die Melodie des Mohren
Ach, du meine enge kleine Kammer
Petruschka, du bist ein Pechvogel

Wenn Sie auf das Lautsprechersymbol klicken, hören Sie einen kurzen Ausschnitt aus Petruschka. Darüber hinaus hilft Ihnen die Ziffer, die vor dem Lautsprechersymbol steht, sich in der Partitur zurechtzufinden.

Die Auszüge von Petruschka wurden von den Bochumer Symphonikern unter der Leitung von Steven Sloane eingespielt.

Jahrmarktsszene – „Kommt her und kauft!”

In den Anfangspassagen entwirft Strawinsky ein musikalisches Porträt des Fastnachtsjahrmarkts, der im 19. Jahrhundert alljährlich in St. Petersburg stattfand.

Um die Vielfalt der Jahrmarktswelt darzustellen, springt Strawinsky zwischen verschiedenen musikalischen Elementen hin und her. Seine musikalische Montage-Technik erinnert dabei an filmische Schnitttechniken.

Direkt zu Beginn hört man in den Flöten ein sehr hohes und durchdringendes Motiv, das an den Ruf der Marktschreier erinnert. Wenige Takte später antworten die Celli mit einem anderen rufähnlichen Motiv 1. 

Diese musikalischen “Marktschreie” werden von Klarinetten und Hörnern begleitet, die zweitönige, vibrierende ostinati im Hintergrund spielen.

Die ersten Töne des russischen Liedes Ding Dong Ding erklingen in den Bass-Instrumenten, begleitet von ihren eigenen Ostinati 2  . Dann folgt eine Wiederholung der Flöten- und Celli-„Rufe“ vom Anfang.

Kurze Zeit später kann man einen längeren Abschnitt aus Ding Dong Ding hören, der erneut von den Bass-Instrumenten gespielt und von Flöten, Oboen und Klavier imitiert wird. 3   Im Anschluss erklingt das vollständige Lied, gespielt vom gesamten Orchester 7  .

Im Anschluss an die vollständige Wiedergabe des Volksliedes benutzt Strawinsky eine ähnliche Serie von komplizierten asymmetrischen Takten wie wir sie im Projekt zu Ein verrückter Tanz verwendet haben, um den Eindruck einer großen, drängelnden Menschenmenge und einer ständig wechselnden bunten Jahrmarktsatmosphäre zu schaffen. 13  

Doch plötzlich wird es ruhig, als die ersten Töne einer Drehorgel erklingen 18  . Allerdings nur für ein oder zwei Sekunden, denn dann setzt das Stimmengewirr des Jahrmarkts wieder ein, bevor dieses abermals von den Klängen der Drehorgel unterbrochen wird.

Ein Drehorgelspieler beginnt einen bekannten französischen Gassenhauer zu spielen. 23 

Die blockhafte Formkonzeption der Anfangspassage mit ihren abrupten Schnitten ist eine der bedeutendsten Neuerungen der Petruschka-Musik.

Ding Dong Ding

Strawinsky erzielt hier eine besondere klangliche Wirkung, indem er in der Begleitschicht zwei verschiedene Sets von Dur- und Moll-Akkorden verwendet 7   . Die höheren Akkorde (in Grundstellung), verlaufen parallel zur Melodie, die tieferen (in der zweiten Umkehrung) in Gegenbewegung dazu.

Kurz vor Petruschkas letztem, tödlichem Kampf mit dem Mohr erklingt die Melodie von Ding Dong Ding noch einmal im Solo-Horn 246  .

Ein verrückter Tanz

Eine der wichtigsten Neuerungen von Strawinsky war die Verwendung von ständig wechselnden Metren. Versuchen Sie einmal, die folgende Zahlenfolge laut zu lesen:

123  (1)23456  12345  123(4)5  12345  123 (1)234

Die Lücken vereinfachen das Lesen. Probieren Sie nun, die Folge nochmals zu lesen, diesmal allerdings ohne Pausen und mit einer Betonung auf jeder 1. Die Nummern in den Klammern sind stumm. Probieren Sie, dort kurz und hörbar durch die Nase einzuatmen. Dies ist der Rhythmus von Strawinskys Version von Ein verrückter Tanz 13  . Kein Wunder, dass die Tänzer des Russischen Balletts protestierten, als sie dieses Stück zum ersten Mal probten!

Strawinskys asymmetrischen Metren waren im frühen 20. Jahrhundert ein Novum und lösten bei seinen Zeitgenossen sowohl Begeisterung als auch Verwunderung aus.

Traurig und eifersüchtig

Zuerst ein wenig Musiktheorie:

Dur- und Moll-Akkorde sind ein wichtiges Element der musikalischen Sprache, so auch in Petruschka. Zum ersten Mal erklingen sie in der fröhlichen Begleitung zu Ding Dong Ding 7  .

Die „musikalische Signatur“, mit der Strawinsky seinen Helden Petruschka charakterisiert, basiert auf Dur-Dreiklängen. In reiner Form empfinden wir Dur-Akkorde als sehr wohlklingend und assoziieren sie meistens mit positiven Gefühlen (z.B. mit Freude oder Fröhlichkeit). Strawinsky stand also vor der schwierigen Aufgabe, mit diesem Akkordmaterial ein musikalisches Erkennungszeichen zu entwickeln, das Eifersucht, Niedergeschlagenheit und Ärger ausdrücken kann.

Strawinsky löst dieses Problem, indem er zwei unterschiedliche Dur-Akkorde miteinander kombinierte. Und zwar zwei Akkorde, die in einem ganz besonderen Verhältnis zueinander stehen.

Wenn man F und H gleichzeitig auf einem Klavier oder Xylophon spielt, entsteht ein sehr dissonanter Klang. Früher wurde dieses Intervall “Teufelsintervall” (lat. „diabolus in musica“) genannt und von vielen Komponisten vermieden. Wir nennen dieses Intervall Tritonus oder übermäßige Quarte. Man kann einen Tritonus auf jeder Note aufbauen, indem man vom Grundton ausgehend fünf Halbtonschritte auslässt und den sechsten Ton wieder spielt (z. B. F – Fis – G – Gis – A – Ais – H).

Strawinsky verwendet für seinen „Petruschka-Akkord“ zwei Dur-Dreiklänge, die in einem Tritonus Abstand zueinander stehen. Außerdem hat er die Töne des einen Akkords so angeordnet, dass sie so nah wie möglich an den Tönen des zweiten Akkords liegen. Dadurch entsteht der spannungsvolle Klang, der Petruschka charakterisiert.

Der Petruschka-Akkord erklingt zum ersten Mal in den Klarinetten: Während er zunächst sehr langsam und traurig gespielt wird 95  , klingt der zweite Einsatz wild und aggressiv. Im weiteren Verlauf des Werkes hören sie den Petruschka-Akkord in verschiedenen Charakter-Stimmungen (114), 116  , (118), 151   and 153  .

Traurige Melodie

In einem kurzen Moment der Wehmut erklingt eine schwermütige Melodie, die im ganzen Werk nur ein einziges Mal zu hören ist 104  . Die Melodie, die das Englischhorn spielt, wird von einem Orgelpunkt auf dem Ton E (Bassklarinette, linken Hand des Klaviers und Kontrabässe), einer Ostinato-Figur (ebenfalls in der linken Klavierhand) und einer Ostinato-artigen Sechzehntel-Folge im zweiten Fagott begleitet. Der Einsatz der große Trommel und des Beckens sowie die zahlreichen Vorschlagsnoten erzeugen eine orientalische Atmosphäre.

Die Melodie des Mohren

Die Melodie des Mohren spielt eine wichtige Rolle im dritten Bild des Balletts. Im Zentrum dieses Abschnitts steht Petruschkas Gegenspieler: der stattliche Mohr. Die Melodie des Mohren erklingt zum ersten Mal bei Ziffer 125  in der ersten Klarinette und der Bass-Klarinette im Abstand von zwei Oktaven. Begleitet wird sie von einem wiederholten Bordunton (B in den Celli und Kontrabässen), Ostinato-Figuren in den Violinen und Bratschen sowie von einem rhythmischen Ostinato der großen Trommeln und des Beckens.

In den folgenden Abschnitten kommt es zu zahlreichen Stimmungswechseln und einem wilden Wutausbruch 130 

Bei ihrem nächsten Einsatz erklingt die Melodie des Mohren 132  in einer anderen Instrumentation. Zunächst spielen zwei Oboen und das Englischhorn den ersten Takt der Melodie, dann erklingt die gesamte Melodie in zwei Fagotten und dem ersten Horn.

Ach, du meine enge kleine Kammer

Diese kurze Liedmelodie – eines der vielen russischen Volkslieder, die Strawinsky in Petruschka verwendet – erklingt viermal in verschiedenen, direkt aufeinanderfolgenden Versionen:

1. Zunächst in den Oboen und im Englischhorn. Strawinsky führt die zweite Oboe dabei im Abstand eines Tritonus zur ersten Oboe und zum Englischhorn, einer Stimmführung, die in der klassischen Harmonielehre verboten war 180 

2. in den Klarinetten (181);

3. in der Solo-Trompete 183  ;

4. in den Flöten, Oboen, Violinen und Bratschen 184  .

Alle Versionen der Melodie werden von Borduntönen und Ostinati begleitet.

Danach kombiniert Strawinsky die Liedweise mit einer weiteren Melodie, bis plötzlich der Bär erscheint.

Petruschka du bist ein Pechvogel

Die Melodie, der wir in unserem Projekt den Titel „Petruschka, du bist ein Pechvogel“ gegeben haben, stammt aus dem Tanz der Kutscher aus dem 4. Teil der Petruschka-Partitur. Strawinsky führt die Melodie zunächst in mehreren Fragmenten ein 213  , die nacheinander von den Trompeten, den Streichern, den Posaunen und den Hörnern gespielt werden. Nach einem Zwischenspiel, erklingt die komplette Melodie alsKanon, wobei die erste Kanonstimme von Trompeten und Posaunen, die zweite von Violinen und Celli gespielt wird. Die Begleitung besteht aus wirkungsvoll orchestrierten Borduntönen und Ostinati 229  .