Im Dezember 1911 schreibt Claude Debussy an seinen Schweizer Freund Robert Godet:
„Wissen Sie eigentlich, dass in Ihrer Nähe in Clarens ein junger russischer Musiker namens Igor Strawinsky lebt, der einen genialen Sinn für Klang und Rhythmus hat? Ich bin mir sicher, dass nicht nur seine Person, sondern auch seine Musik Sie unendlich erfreuen werden… Alles ist durch und durch orchestral gedacht […]. Es gibt weder Vorsicht noch Prahlerei. Es ist kindlich und ungezähmt. Allerdings stellt die Musik hohe Anforderungen an die Ausführenden. Wenn Sie die Gelegenheit bekommen sollten, ihn zu treffen, so zögern sie nicht.“ 1
| Claude Debussy, fotografiert von Igor Strawinsky in Paris im Jahr 1910, Paul Sacher Stiftung Basel
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Erste Begegnungen Die erste Begegnung zwischen Debussy und Strawinsky reicht in den Sommer 1910 zurück. Als sich der 28-jährige Komponist aus Sankt Petersburg am 25. Juni dem Pariser Publikum mit seinem Ballett Der Feuervogel präsentierte, befand sich Claude Debussy unter den Premierenbesuchern. Die spektakuläre Uraufführung machte den bisher völlig unbekannten Strawinsky nicht nur über Nacht zu einer internationalen Berühmtheit, sondern brachte ihm auch ein doppelbödiges Lob seines scharfzüngigen Kollegen ein: „Es ist nicht perfekt, aber in mancher Hinsicht trotzdem sehr gut, weil die Musik nicht die gehorsame Dienerin des Tanzes ist.“ 2
Für Strawinsky war die Bekanntschaft mit dem um zwei Jahrzehnte älteren Debussy zweifellos ein besonderes Ereignis. So gehörte der berühmte französische Komponist zu den Wegbereitern der Moderne, die der Musik um die Jahrhundertwende neue Bahnen eröffneten. Bereits während seiner Studienzeit in Petersburg hatte Strawinsky einige Werke von Debussy kennengelernt. Die kritischen Reaktionen seines damaligen Umfelds – des konservativen Kreises um Nikolai Rimsky-Korsakov – auf Debussys Musik hat er rückblickend in seinen Erinnerungen beschrieben:
„Bei einem Konzert, wo ein Werk von Debussy gespielt wurde, fragte ich Rimskij-Korssakow, was er davon halte. Er sagte wörtlich: ‚Es ist besser, diese Musik gar nicht zu hören, denn man setzt sich sonst der Gefahr aus, sich an sie zu gewöhnen, und schließlich liebt man sie womöglich.‘ Seine Schüler teilten diese Haltung nicht, sie waren päpstlicher als der Papst, und seltene Ausnahmen bestätigen nur die Regel.“ 3
| Igor Strawinsky und Claude Debussy in Debussys Pariser Wohnung in der avenue du Bois de Boulogne, Foto von Erik Satie, Juni 1910 (Paul Sacher Stiftung Basel)
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Petruschka und Le sacre du printemps Ein Jahr nach der Premiere des Feuervogels schlug Debussys verhaltene Bewunderung in unverhohlenen Enthusiasmus um. Im Juni 1911 besuchte er eine Vorstellung von Strawinskys zweitem Ballett Petruschka und war von der der Musik tief beeindruckt. Nachdem er die Partitur des Werkes eingehend studiert hatte, schrieb er im April 1912 in einem Brief an Strawinsky: „Dank Ihnen habe ich wunderbare Osterferien in Begleitung von Petruschka, dem schrecklichen Mohren und der anmutigen Ballerina verbracht. Ich vermute, dass sie mit diesen drei Puppen unvergleichliche Augenblicke erlebt haben müssen… und ich kenne nicht viele Dinge, die der Passage gleichkommen, die Sie den ‚Zaubertrick’ nennen [gemeint ist jene Passage im I. Teil, in der die drei Puppen zum Leben erwachen]. Es gibt in diesem Abschnitt eine Art klangliche Magie, eine geheimnisvolle Transformation der mechanischen Seelen, die durch einen Zauber menschlich werden und mir scheint, dass Sie bis heute der einzige Erfinder eines solchen magischen Effektes sind. Schließlich gibt es eine orchestrale ‚Sicherheit‘, die ich sonst nur im Parsifal gefunden habe. – Ich bin mir sicher, dass Sie verstehen, was ich sagen möchte. – Sie werden über Petruschka hinausgehen, das ist gewiss, aber Sie können bereits stolz auf das sein, was sie mit diesem Werk erreicht haben.“ 4
Doch schon zwei Monate später bereitete ihm der mittlerweile 30-jährige Russe eine neue Überraschung. An einem Sonntagnachmittag hatte der einflussreiche französische Kritiker Louis Laloy neben dem Ehepaar Debussy auch Strawinsky zu sich eingeladen. Am 2. Juni 1912, also fast auf den Tag genau ein Jahr vor der ebenso skandalträchtigen wie mythenumwobenen Uraufführung von Strawinskys drittem Ballett Le Sacre du printemps (Das Frühlingsopfer) im Pariser Théâtre des Champs-Elysées, fand im Hause Laloy in privatem Rahmen eine Lektüre der Klavierfassung des noch nicht ganz vollendeten Werks statt. In seinen Erinnerungen berichtet der französische Kritiker über dieses denkwürdige Ereignis:
„Debussy erklärte sich bereit, den Secondo […] zu spielen. Strawinsky hatte darum gebeten, seinen Hemdskragen zu öffnen. Mit in den Brillengläsern erstarrtem Blick, die Nase auf die Klaviatur gerichtet, summte er von Zeit zu Zeit eine ausgesparte Partie und entfachte gemeinsam mit den agilen und weichen Hände seines Duopartners, der ihm ohne Probleme folgte und alle Schwierigkeiten zu beherrschen schien, einen betäubenden Klangrausch. Als sie ihr Spiel beendet hatten, gab es keine Umarmungen und keine Komplimente. Wir blieben stumm, wie von einem gerade vorübergezogenen Sturm niedergeworfen, der aus den Tiefen der Zeiten kam und unser Leben an den Wurzeln packte.“ 5
| Brief von Claude Debussy an Igor Strawinsky, 13.4. 1912, S. 1, Paul Sacher Stiftung Basel
Claude Debussy bei Ernest Chausson (Source gallica.bnf.fr/ Bibliothèque nationale de France)
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Reminiszenzen und Anklänge Obwohl die Erinnerung an die private Sacre-Aufführung Debussy noch Monate später „wie ein schöner Albtraum“ verfolgte, stand ihm die musikalische Welt von Petruschka näher. Seine Begeisterung für dieses Werk spiegelt sich in einigen seiner späten Kompositionen wie dem zweiten Band der Préludes, dem für Sergej Diaghilew geschriebenen Ballett Jeux oder dem unvollendeten Kinderballett La boîte à joujoux. In all diesen Werken gibt es Passagen, die an Strawinsky erinnern und als Petruschka-Nachklänge oder -Reminiszenzen gedeutet werden können.
Umgekehrt finden sich auch in Strawinskys Musik immer wieder Anklänge an Debussy. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang insbesondere der erste Akt der Oper Le rossignol („Die Nachtigall“), der zwischen November 1908 und August 1909 – also noch vor der Komposition des Feuervogels – entstand. Der Debussy-Einfluss manifestiert sich hier vor allem auf der Ebene der Orchesterbehandlung. Aber auch in späteren Werken Strawinskys, bei denen nicht mehr von einem direkten Einfluss gesprochen werden kann, gibt es Spuren, die auf Debussy verweisen. | Porträt von Claude Debussy, Lausanne 1914 (Paul Sacher Stiftung Basel)
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Widmungen und Hommagen Die persönliche Beziehung zwischen Debussy und Strawinsky war herzlich, aber nicht spannungsfrei. So fühlte sich Debussy von den gewagten Neuerungen seines jüngeren Kollegen nicht nur angeregt, sondern auch unter Druck gesetzt. Er fürchtete um seinen Einfluss bei der jungen Komponistengeneration und warf Strawinsky in der Anfangsphase des I. Weltkriegs vor, sich in eine problematische Richtung zu entwickeln. So schreibt er am 15. Oktober 1915 in einem Brief an Robert Godet: „Strawinsky selbst neigt sich auf gefährliche Weise der Seite Schönbergs zu, aber er bleibt trotzdem der wunderbarste Mechaniker des Orchesters in dieser Zeit“. 6
Trotz dieser zeitweiligen Spannungen und Vorbehalte war das Verhältnis zwischen beiden Komponisten von Respekt und gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Dokumentiert wird diese Achtung in einer Reihe von Zueignungen. So widmete Debussy den letzten Satz seines im Sommer 1915 geschriebenen Werkes En blanc et noir für zwei Klaviere Igor Strawinsky. Einige Jahre zuvor hatte ihm dieser bereits die Kantate Le roi des étoiles (1911/12) für Männerchor und Orchester zugeeignet. Als Debussy im März 1918 nach langer schwerer Krankheit in Paris starb, ehrte Strawinsky seinen Kollegen mit einer musikalischen Hommage: „Ich hatte den Verlust eines Mannes zu beklagen, dem ich aufrichtig zugetan war, der sich mir immer als Freund erwiesen hatte und mir und meinem Werk stets wohl gesonnen war. Ich betrauerte auch den Tod eines Künstlers, der trotz Krankheit und Altersbeschwerden die Fülle seiner schöpferischen Kraft bewahrt hatte und dessen musikalisches Genie während der ganzen Dauer seiner Schaffenszeit sich immer gleich geblieben war.“ 6
Für eine Debussy-Gedenkbeilage der Pariser Revue Musicale komponierte er einen Choral, der wenig später zum Schlussabschnitt seinerSymphonies d’instruments à vent wurde. Das einsätzige Werk für 24 Holz- und Blechblasinstrumente ist dem Andenken Claude Debussys gewidmet. | Achille-Emile-Othon Friesz: Claude Debussy auf seinem Totenbett (Source gallica.bnf.fr/ Bibliothèque nationale de France)
Igor Strawinsk, Symphonies d’Instruments à Vent, autographe Reinschrift der Partitur, S.1 (Paul Sacher Stiftung Basel)
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Weiterführende Lektüre Edward Lockspeiser, Debussy: His life and mind, Cambridge u.a.: Cambridge University Press, 1978, S. 178–188.
Richard Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1996, insbesondere S. 770–778. |
Anmerkungen 1
Claude Debussy, Correspondance, 1872–1918, Édition établie par François Lesure et al., Paris: Gallimard, 2005, S. 1470 (Übersetzung T.B.). 2
Brief von Debussy an seinen Verleger Jacques Durand vom 8. Dezember 1910, in: Ebd., S. 1300 (Übersetzung T.B.) 3
Igor Strawinsky, Erinnerungen, in: ders., Schriften und Gespräche I, Mainz: Schott, 1983, S. 39. 4
Claude Debussy, Correspondance, S. 1503 (Übersetzung T.B.). 5
Zit. nach Ebd., S. 1554f. 6
Ebd., S. 1948.
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Igor Strawinsky, Erinnerungen, S.99. |
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