Klavier Festival Ruhr
deutschsprachige Version ausgewählt Click to change to English language Petruschka
Entstehungsgeschichte und Uraufführung
Von Russland nach Westeuropa

Petruschka ist das erste Werk, das Igor Strawinsky außerhalb seiner russischen Heimat komponierte. In der verschlungenen Entstehungsgeschichte des Balletts spiegelt sich das Wanderleben, das der junge Komponist in den Jahren vor dem Ausbruch des I. Weltkriegs führte. Mit der spektakulären Uraufführung des Feuervogels am 25. Juni 1910 in der Pariser Oper war Strawinsky über Nacht zu einer internationalen Berühmtheit geworden. Überrascht und berauscht von dem gewaltigen Erfolg seines ersten Balletts reiste der 28-Jährige nach Russland zurück, um schon wenige Tage später wieder in die französische Hauptstadt aufzubrechen. Diesmal allerdings nicht alleine, sondern in Begleitung seiner Familie. An der Seite seiner Frau Katia erlebte er dort Anfang Juli die letzte Vorstellung des Feuervogel in der Uraufführungssaison. Rasch war der Entschluss gefasst, nicht nur die Sommermonate, sondern auch den folgenden Winter in Westeuropa zu verbringen. Zunächst fuhren die Strawinskys zur Erholung in den Badeort La Baule in der südlichen Bretagne. Anfang September bezog die russische Großfamilie dann für einige Wochen in Lausanne Quartier. Während die beiden Kinder, begleitet von zwei Ammen und Strawinskys Bruder Gury in einer Pension lebten, zogen Igor und Katia in ein benachbartes Krankenhaus. Dort wurde am 23. September ihr drittes Kind Soulima (Sviatoslav) geboren.

Familie Strawinsky mit der Kinderfrau Baba Sonia, Clarens, Dezember 1911 (Paul Sacher Stiftung Basel)
Ein burleskes Konzertstück als Ausgangspunkt

„Ich habe niemals komponieren können, wenn ich nicht sicher war, das mich niemand hörte“, bekannte Strawinsky in seinen in den 1930er Jahren erschienenen Erinnerungen.1 Um in Lausanne ungestört arbeiten zu können, hatte er sich in der Pension ein kleines Dachzimmer gemietet. Dort begann er mit der Ausarbeitung eines burlesken Konzertstücks für Klavier und Orchester. Obwohl das neue Werk zunächst als reines Instrumentalstück geplant war, ließ Strawinsky sich beim Kompositionsprozess von dramatischen Ideen leiten. So berichtet er rückblickend:

„Bei dieser Arbeit hatte ich die hartnäckige Vorstellung einer Gliederpuppe, die plötzlich Leben gewinnt und durch das teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die Geduld des Orchesters so sehr erschöpft, daß es sie mit Fanfaren bedroht.“ 2

Der Initiative Sergej Diaghilews verdanken wir es, dass dieses instrumentale Drama für Klavier und Orchester wenig später zum Grundstein eines neuen Balletts werden sollte. Kurz nachdem die Strawinskys ihren Haushalt von Lausanne in das Kleinstädtchen Clarens verlegt hatten, erschien der Impresario der Ballets Russes in Begleitung seines Startänzers und damaligen Liebhabers Vaslav Nijinsky zu Besuch. Als Strawinsky den beiden Männern die Rohfassung seines neuen Konzertstücks vorspielte, erkannte Diaghilew sofort das dramatische Potential der Komposition. Zugleich witterte der „unermüdliche und teuflisch begabte Jäger“ 3 die Chance, nicht nur den jungen Komponisten noch enger an sich zu binden, sondern sich auch mit einem langjährigen Weggefährten nach heftigen Streitigkeiten wieder zu versöhnen. Schon am nächsten Tag griff er zur Feder und schrieb an den Maler, Kunsttheoretiker und Theaterausstatter Alexandre Benois:

„Genug des Schmollens. Schieb den alten Groll beiseite. Du musst an dem Ballett mitwirken, das Igor Strawinsky und ich im Kopf haben. Gestern hörte ich die Musik des ‚Russischen Tanzes‘ und ‚Petruschkas Schrei‘, die er soeben komponiert hat. Es ist ein Werk von solcher schöpferischer Kraft, das man sich nichts jenseits davon vorstellen kann. Du allein kannst die Aufgabe übernehmen.“ 4

Tatsächlich konnte Benois dem verlockenden Angebot, die Petruschka-Geschichte und die Welt des russischen Jahrmarkts in einem Ballett zu verherrlichen, nicht widerstehen. Nach einem Besuch Diaghilews in Sankt Petersburg schrieb der große Kenner der russischen Volkskultur an den nervös auf eine Antwort harrenden Komponisten:

„[…] ich bin bereit, mich mit Dir in legaler Heirat für die Produktion […] unseres großen Babys zu verbinden.“ 5

Blick in eines jener abgeschotteten Arbeitszimmer, in denen Strawinsky zu Komponieren pflegte. Sein wichtigstes Werkzeug war dabei das Klavier. (Paul Sacher Stiftung Basel) Sergej Diaghilew, Igor Strawinsky und General Bezobrazow (r. v. l.), Beau Soleil, 1911 (Paul Sacher Stiftung Basel)
Die Frucht einer Fernbeziehung

Obwohl sich Strawinsky und Benois voller Enthusiasmus an die Arbeit machten, stellte sich bald heraus, dass das „große Baby“ aus einer komplizierten Fernbeziehung hervorgehen sollte. Strawinsky arbeitete zunächst noch am Genfer See, später dann an der französischen Riviera an der Musik. Währenddessen versuchte Alexandre Benois im 2000 Kilometer entfernten Sankt Petersburg das Szenario des Balletts zu entwerfen und erste Ideen für das Bühnenbild und die Kostüme zu skizzieren. Als Bote und Vermittler fungierte der reiselustige Sergej Diaghilew. Er zog die Strippen und erweiterte die ‚Ehe’ zumindest zeitweise zu einer schöpferischen Menage à trois.

Welche Schwierigkeiten diese ungewöhnliche Arbeitsform mit sich brachte, bezeugt der Briefwechsel zwischen Strawinsky und Benois. Am 3. November 1910 schreibt der Komponist aus Clarens:

„Wenn Du nur wüsstest, wie sehr mich das alles besorgt – alles geschieht außerhalb meines Blickfeldes und man erfährt nichts. […] Wenn ihr Petruschka schon diskutiert haben solltet, dann möchte ich daran teilnehmen, zumindest in brieflicher Form.“ 6

Einen Monat später klagt Alexandre Benois dann in einem Brief aus Sankt Petersburg:

„Ach mein Freund, es ist schwer, so weit voneinander entfernt zusammenzuarbeiten. Ich habe gerade Diaghilew mit meinen Plänen für Petruschka bekannt gemacht und es stellt sich heraus, das einige von ihnen – trotz Diaghilews Sympathie –nicht umgesetzt werden können, weil die Musik für Teile des Balletts schon fertig vorliegt. Du solltest hierher kommen, damit wir endlich im Gleichklang singen können.“ 7

Léon Bakst (1866 – 1924), Porträt von Alexandre Benois, 1898 (Wasserfarben und Pastel)
Arbeitstreffen in Sankt Petersburg

Kurz vor dem Jahreswechsel ging der sehnliche Wunsch nach direkter Zusammenarbeit schließlich in Erfüllung. Strawinsky reiste nach Sankt Petersburg und Benois konnte das umgewandelte Konzertstück sowie andere bereits existierende Passagen der Ballettmusik, die er bis dahin nur aus Schilderungen kannte, zum ersten Mal hören:

„Was ich nun hörte, übertraf meine Erwartungen. Der Russische Tanz erwies sich als magische Musik, in der ansteckende, diabolische Rücksichtslosigkeit mit seltsamen Ausweichungen in den Bereich der Zärtlichkeit unvermittelt abwechselten.“ 8

In Diaghilews Petersburger Wohnung arbeiteten die beiden Künstler die Balletthandlung gemeinsam weiter aus. Zugleich verfasste Benois nachträglich das Szenario zu jenem Teil des Konzertstücks, das zum zweiten Bild des Ballettes „Chez Petruschka“ geworden war. Obwohl Strawinsky Anfang Januar 1910 wieder abreisen musste, waren beide Künstler mit den Ergebnissen des intensiven Arbeitsaufenthalts äußerst zufrieden. Zurück an der Côte d’Azur schreibt Strawinsky an Andrej Rimsky-Korsakov, den Sohn seines berühmten Lehrers Nikolai Rimsky-Korsakov:

„Mein letzter Besuch in Petersburg scheint mir sehr gut bekommen zu sein. Das letzte Bild entwickelt sich in eine interessante Richtung, durchgehend schnelle Tempi und Durtonart, die irgendwie nach russischem Essen duften – Kohlsuppe vielleicht, Ziehharmonika – Ekstase! Aufregung! Was ist dagegen Monte Carlo? Dort ist es nicht einmal erlaubt, im Spielsaal zu rauchen!“ 9

Sankt Petersburg um 1910
Vollendung der Partitur und Aufführungsvorbereitungen in Rom

In den folgenden Wochen und Monaten arbeitete Strawinsky unter Hochdruck an der Fertigstellung der Musik. Eine schwere Nikotinvergiftung zwang ihn dabei zwischenzeitlich zu einer längeren Schaffenspause. Wie sehr der straffe Zeitplan den Komponisten belastete, zeigt der Briefwechsel mit Benois. So schreibt Strawinsky am 26. Januar 1911:

Ich bin schrecklich besorgt und enerviert über den Zeitdruck (ein Gefühl, das ich seit dem Feuervogel nur allzu gut kenne, und um das sich weder Du noch Diaghilew scheren – wie grausam von Euch!). Gestern habe ich Diaghilew den vierhändigen Klavierauszug des ersten Bildes geschickt […]. Der Direktor sendet Telegramme, bedroht mich mit dem Vertrag. In den nächsten Tagen werde ich die vierhändige Fassung des zweiten Bildes von Petruschka abschicken. Ich habe nicht einmal die Zeit, diese Dinge vorher kopieren zu lassen – ich schicke die Originale.“ 10

Anfang Mai reiste Strawinsky mit der immer noch nicht ganz fertigen Partitur dann nach Rom. Dort traf er auf das Ensemble der Ballets Russes, die vor Beginn ihrer Saison in Paris ein mehrwöchiges Gastspiel an der römischen Oper absolvierten. In einem Hotelzimmer in der Nähe der Piazza Barberini, in das auf Wunsch des Komponisten ein Klavier gebracht worden war, entstand in fieberhafter Eile die außergewöhnliche Schlusspassage des Balletts. Währenddessen begannen die Tänzerinnen und Tänzer unter der Leitung von Michel Fokine bereits mit der Einstudierung. Da kein anderer Ort zur Verfügung stand, musste in der Kantine des Opernhauses geprobt werden. Tamara Karsavina, die die Rolle der Ballerina übernommen hatte, erinnert sich:

„Stunde um Stunden arbeiteten wir bis zur völligen Erschöpfung in einer Atmosphäre, die nach abgestandenem Essen roch. Fokine raufte sich die Haare, war völlig entkräftet und hysterisch. Verweise, Tränen und allgemeine Spannung elektrisierten die Luft. Nur Strawinsky, der die niedrige Arbeit eines Pianisten ausübte, blieb unbeirrt. Seine einzige Konzession an die Hitze und Müdigkeit bestand im Ablegen seines Rockes, nicht ohne sich vorher angemessen für sein hemdärmeliges Erscheinen entschuldigt zu haben. Bedenkt man, daß er damals noch am Finale seines Petruschka arbeitete, muß man seine Geduld und Sanftmut bestaunen.“ 11

Strawinskys Rastrum (Paul Sacher Stiftung Basel) Tamara Karsavina als BallerinaTamara Karsavina als Ballerina
Uraufführung in Paris

Nach nicht weniger spannungsgeladenen Aufführungsvorbereitungen in Paris und zwei öffentlichen Generalproben erfolgte am 13. Juni 1911 schließlich die Uraufführung des neuen Balletts im Théâtre du Châtelet. Das begeisterte Publikum erlebte dabei ein Gesamtkunstwerk, in dem sich Musik, Tanz und Ausstattung auf eindrucksvolle Weise zu einer höheren Einheit verbanden. In einem Brief an ihre in Russland weilende Schwiegermutter berichtete Katia Strawinsky:

„Nijinsky erwies sich als wahrer Künstler und verkörperte Petruschka auf anrührende Weise und mit tiefem Gefühl. Und das war sicherlich nicht leicht für ihn, denn es gab keine Sprünge, kein Schaulaufen. Alles war neu für ihn und er machte daraus etwas ganz Wunderbares. Die Karsavina war reizend. Benois’ Kostüme und sein Bühnenbild wunderschön. […] Bei der Uraufführung gab es großen Applaus, Gima wurde herausgerufen, gepriesen und gefeiert, sowohl aufrichtig als auch unaufrichtig.“ 12

Auch die meisten Reaktionen in der französischen Presse waren enthusiastisch. So schrieb der bedeutende Kritiker Jacques Rivière in der Nouvelle Revue Française: „Petruschka ist ein musikalisches Meisterwerk und zwar eines der unerwartetsten, impulsivsten und lebhaftesten, die ich kenne.“ 13

Vaslav Nijinsky als Petruschka, 1911 (akg-images/VG Bild-Kunst, Bonn 2017)
Quellen

Ein aufschlussreiches Dokument zur Entstehungsgeschichte von Petruschka ist der lesenswerte Briefwechsel zwischen Igor Strawinsky und Alexandre Benois. Er wurde von Andrew Wachtel in dem von ihm herausgegebenen Band Petrushka: Sources and contexts in einer annotierten englischen Übersetzung publiziert (Northwestern University Press, 1998, S. 123 – 138).

Die bedeutendste musikalische Quelle zur frühen Genese des Werkes ist ein Skizzenbuch Strawinskys mit Einträgen aus dem zweiten Halbjahr 1910. Es befindet sich in der Juilliard Manuscript Collection und ist dort online zugänglich (Zur Online-Edition des Skizzenbuchs).

Sekundärliteratur

Richard Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1996, insbesondere S. 661 – 689.

Stephen Walsh, Stravinsky. A Creative Spring. Russia and France, 1882-1934, London u. a.: Pimlico, 2002, S. 140–167.

Anmerkungen

1 Igor Strawinsky, Erinnerungen, in: ders., Schriften und Gespräche I, Mainz: Schott, 1983, S. 72.

2 Ebd., S. 50.

3 Misia Sert, Pariser Erinnerungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999, S. 162.

4 Zit. nach Richard Taruskin, Stravinsky and the Russian Traditions, Bd. 1, Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1996, S. 670.

5 Petrushka: Sources and contexts, hrsg. von Andrew Wachtel, Evanston: Northwestern University Press, 1998, S. 124.

6 Ebd., S. 125.

7 Ebd., S. 130.

8 Alexandre Benois, Memoirs, übersetzt von Moira Budberg, Bd. 1, London: Chatto and Windus, 1960, S. 327.

9 Zit. nach Stephen Walsh, Stravinsky. A Creative Spring. Russia and France, 1882-1934, London u. a.: Pimlico, 2002, S. 155.

10 Petrushka, Sources and contexts, S. 133.

11 Zit. nach Igor Strawinsky. Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen, hrsg. von Heinrich Lindlar, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982, S. 21.

12 Zit. nach Stephen Walsh, Stravinsky. A Creative Spring, S. 163f.

13 Zit. nach Vera Stravinsky und Robert Craft, Stravinsky in pictures and documents, New York: Simon and Schuster, 1978, S. 66.