Klavier Festival Ruhr
deutschsprachige Version ausgewählt Click to change to English language Petruschka
Von der Idee zur Aufführung
Petruschka – Ein Schlüsselwerk der Moderne

Mit Petruschka schuf Igor Strawinsky zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Werk, dessen Faszinationskraft bis heute ungebrochen ist. Der 28-jährige Komponist schrieb das Stück für großbesetztes Symphonieorchester 1910/11 für die berühmten Ballets Russes, ein Ensemble von russischen Tänzerinnen und Tänzern, das damals ganz Paris begeisterte.

Im Zentrum von Petruschka steht die Geschichte von drei Puppen, die inmitten eines Jahrmarktsfests auf geheimnisvolle Weise zum Leben erwachen. Petruschka, von menschlichen Leidenschaften durchdrungen, verliebt sich in die schöne Ballerina. Doch seine Liebe bleibt unerwidert und führt schließlich zu einem tragischen Ende. 

Auch die Musik zu Petruschka wurzelt in der vielfarbigen Welt des Jahrmarkts. So hat Strawinsky in seine Partitur zahlreiche russische Volksweisen, aber auch populäre Lieder und Tänze westeuropäischer Herkunft eingewoben. Ähnlich wie auf einem Jahrmarkt erklingen diese nicht nur nacheinander, sondern zum Teil auch gleichzeitig. Strawinskys Petruschka erzählt also nicht nur das Drama der drei zum Leben erwachten Puppen. Es ist zugleich ein kunstvolles musikalisches Porträt der Jahrmarktswelt.

Bühnenbild zum ersten Bild von Petruschka, Alexandre Benois, 1911 (akg-images/Erich Lessing)
Jenseits des klassischen Konzerts – Petruschka auf dem Jahrmarkt

Strawinskys energiegeladene Musik mit ihren pulsierenden Rhythmen und faszinierenden Klangeffekten und die dramatische Geschichte um die drei Puppen eignen sich in geradezu idealer Weise für ein umfangreiches Education-Projekt. Als wir im Frühjahr 2007 mit der Konzeption begannen, wurde uns schnell klar, dass am Ende des Projekts keine herkömmliche Aufführung des Werkes an einem traditionellen Konzertort stehen sollte.

Vielmehr galt es eine Präsentationsform zu entwickeln, die Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft für Strawinskys Musik begeistert. Angesprochen werden sollten dabei gerade auch diejenigen, die normalerweise keine klassischen Konzerte besuchen. Einen Schlüssel zur Lösung dieser Aufgabe fanden wir im Werk selbst: In Strawinskys Ballett bildet die sinnbetörende Welt des Jahrmarkts den Rahmen, in dem das Drama der drei zum Leben erwachten Puppen angesiedelt ist. Analog dazu spielten die Bochumer Symphoniker Petruschka am 27. Oktober 2007 nicht im Konzertsaal, sondern inmitten eines vielfarbigen Jahrmarktsfests in der faszinierenden Industrie-Architektur der Jahrhunderthalle Bochum.

Rumänische Straßenmusiker auf dem Bochumer Jahrmarktsfest
Das Petruschka-Jahrmarktsfest als Ort interkultureller Begegnung

Jahrmärkte waren seit jeher Orte interkultureller Begegnung. Schausteller und reisende Händler präsentierten der staunenden lokalen Bevölkerung die neuesten Attraktionen und Waren aus nahen und fernen Ländern. Auch die Petruschka-Spiele, die der „Co-Autor“ von Strawinskys Ballett, Alexandre Benois, als Kind auf dem Petersburger Fastnachtsjahrmarkt erlebte, sind das Produkt eines fruchtbaren kulturellen Austausches. In ihnen verbinden sich Elemente des russischen Volkstheaters mit Figuren und Spielformen der italienischen Stegreifkomödie.

Kulturelle Vielfalt und kulturelles Miteinander kennzeichneten ebenfalls das Petruschka-Jahrmarktsfest am 27. Oktober 2007. Es bildete zugleich die Auftaktveranstaltung für das interkulturelle Kunstfestival MELEZ, das zu den zentralen Projekten der europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010 gehört. Libanesische Speisen fanden sich neben vietnamesischen Gerichten, türkisches Schattentheater neben venezianischen Masken, russische Volksweisen erklangen gleichzeitig mit französischen Gassenhauern. Die Akteure waren dabei bis auf wenige Ausnahmen keine professionellen Schausteller, sondern mehr als 150 Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem Ruhrgebiet. Sie machten Musik, spielten Theater, verköstigten die Besucher und traten als Jongleure, Akrobaten und Zauberer in Erscheinung.

Der Kinderzirkus Essen präsentiert seine Jonglierkünste vor mehr als 1.500 Zuschauern
Zur Verbindung von Jahrmarktsfest und Aufführung

Wichtig war uns, dass die Aufführung von Petruschka und das Jahrmarktsgeschehen nicht unvermittelt nebeneinander stehen, sondern so eng wie möglich miteinander verklammert werden. Deswegen gab es auf dem Jahrmarkt in der Jahrhunderthalle neben russischen Spezialitäten auch zwei Puppenspieler, die eine neue Version der Petruschka-Geschichte aufführten. Die verschiedenen Musikgruppen, die nicht nur nacheinander, sondern zum Teil auch gleichzeitig spielten, erzeugten jenes jahrmarktstypische Durcheinander von verschiedenen Klängen und Melodien, das Strawinsky auf so kunstvolle Weise in seinem Werk porträtiert hat. Gespielt wurden dabei auch Volksweisen und populäre Melodien, die der Komponist in die Petruschka-Partitur aufgenommen hat. 

Natürlich bestehen zwischen dem Sankt Petersburger Fastnachtsjahrmarkt des 19. Jahrhunderts und dem interkulturellen Petruschka-Jahrmarktsfest fundamentale Unterschiede. Dennoch wurden durch die spezifische Dramaturgie die Ursprünge von Strawinskys faszinierender Musik in der Volkskultur für das Publikum in der Bochumer Jahrhunderthalle zu einem unmittelbaren sinnlichen Erlebnis.

Für viele Zuhörer wurde der Zugang zu Strawinskys Musik nicht nur durch die Einbettung der Aufführung in das Jahrmarktsgeschehen erleichtert, sondern auch durch den Einbezug von Tanz und Film. Rund 60 Kinder und Jugendliche aus dem Ruhrgebiet führten zu Teilen der Musik eine freie Choreographie auf, die sie mit dem Tänzer und Choreographen Mohan C. Thomas erarbeitet hatten. Zu anderen Teilen wurde ein Film des englischen Animationskünstlers Victor Craven gezeigt, der die Petruschka-Geschichte in ihren Grundzügen erzählt und zugleich musikalische Prozesse visuell verdeutlicht.

Grund-, Haupt- und Gesamtschüler tanzen zu Strawinskys Petruschka
Die Education-Workshops im Vorfeld der Aufführung

Das Petruschka-Jahrmarktsfest bildete den Höhepunkt der vielfältigen Education-Aktivitäten des Klavier-Festivals Ruhr und seiner Partner. Im Herbst 2007 haben sich 130 Kinder und Jugendliche unter der Anleitung von erfahrenen Künstlern und Pädagogen auf schöpferische Weise mit Strawinskys Musik, der Petruschka-Geschichte und der Jahrmarktsthematik auseinandergesetzt. Wichtig waren uns dabei die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Schultypen und der Einbezug verschiedener Kunstformen in die Projektarbeit. Gemeinsam mit Mohan C. Thomas erarbeiteten Grund- und Hauptschüler aus Essen und Mülheim an der Ruhr in zahlreichen Tanz-Workshops eine Choreographie zu Teilen des Balletts. Gleichzeitig setzten sich Realschüler und Gymnasiasten aus Bochum mit dem Maler und Graffiti-Künstler Daniel Man in Kunst-Workshops mit Petruschka auseinander. Sie schufen drei überlebensgroße Holzfiguren, die am 27. Oktober 2007 in der Jahrhunderthalle ausgestellt wurden. Schließlich entwickelten über 50 Grundschüler aus Bochum gemeinsam mit Mitgliedern der Bochumer Symphoniker und Richard McNicol ihre eigene Musik zu einer Puppenspielfassung von Petruschka.

Musiker der Bochumer Symphoniker erarbeiten mit Grundschülern ihre eigene Jahrmarktsmusik
Schöpferische Fähigkeiten und kulturelle Partizipation

Das Ruhrgebiet ist eine durch Einwanderung geprägte Region. Bereits heute hat fast die Hälfte der im Ruhrgebiet lebenden Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund. Bei der Auswahl der Schulen für das Petruschka-Projekt wollten wir dieser kulturellen Vielfalt Rechnung tragen und zugleich Schülerinnen und Schüler verschiedener sozialer Herkunft und unterschiedlichen Bildungsstands in die Arbeit einbeziehen. So stammten die rund 130 Teilnehmer der Education-Workshops aus 20 verschiedenen Nationen.

In den Workshops konnten die Schülerinnen und Schüler ihre schöpferischen Fähigkeiten stärken und weiterentwickeln. Durch die eigene künstlerische Tätigkeit erarbeiteten sie sich zugleich einen aktiven Zugang zu Strawinskys Musik. Ein wichtiges Anliegen war es dabei, nicht nur die Projektteilnehmer, sondern auch ihre Familien zur Partizipation am kulturellen Leben des Ruhrgebiets zu ermutigen. Deswegen wurden neben den Kindern auch deren Eltern am 27. Oktober 2007 in die Jahrhunderthalle eingeladen. Dort waren sie nicht nur aktiv am Geschehen beteiligt, sondern erlebten im Rahmen des interkulturellen Jahrmarktsfests größtenteils zum ersten Mal Strawinskys faszinierende Musik.

Junge Zuschauer bei der Aufführung von Petruschka